Surface - Haus Bachem, Koenigswinter, Germany - 2007

Darf ich mir einen Moment lang Ihr Gehör leihen,verehrtes Publikum,

denn ich habe denen ehrenwerten Auftrag,den „Prolog im Himmel“ zu einer spannenden Ausstellung zu liefern.

Wissend, das langatmige Einführungen durchaus ermüdend sein können, gleitet dieser Prolog  sogleich auf die „Oberfläche“ (Ausstellungsmotto) der Erde.

In Kalifornien, unweit von San Francisco brütet eine Künstlerin, die sich seit 1995 der Fotografie und einer unkonventionellen Form der Malerei verschrieben hat, über einem Themenkomplex,der, ein universales und fundamentales Kernproblem aufwirft.

Es geht, wie wir sehen werden, im Grunde -  in den teils eigens für diese Königswinterer Kulturtage entworfenen Exponaten,um die Ergründung,um die Erforschung eines Phänomens, das in der Fachliteratur bezeichnet wird mit kognitive oder empirische Wahrnehmung.Im Klartext: die Künstlerin Inez Tancre philosophiert, reflektiert, analysiert auf verschiedenen Ebenen:wie die Strukturen und Möglichkeiten unseres Wahrnehmungsapparates agieren, registrieren und interpretieren. Dieser Gedankenansatz prägt eine seriöse, anspruchsvolle, ausnehmend inspirierte und im doppelten Sinn tiefschürfende Schau. Dabei belichtet wird auch der Aspekt Bildwahrnehmung, Kunstrezeption schlechthin.

Ausgangspunkt dieser natürlich malerischen Untersuchung ist in erster Linie das Instrument Fotografie, eigentlich ein inhaltlich fixierendes Readymadeprodukt. das scheinbar eine sachliche Dokumentation von unverrückbaren, klarsichtigen Realitäten projiziert.

Die promovierte Künstlerin Inez Tancre, deren eheliche Vita gekennzeichnet ist durch permanenten, kosmopolitischen Wechsel von Lebensräumen (Iran, Korea, Sierra Leone, Kanada, Norwegen, Ägypten, Italien, Afghanistan und derzeit U.S.A.) kommt ursprünglich von der Linguistik, Philosophie und Theaterwissenschaft (Studium München, Bonn).

So liegt es nahe, daß das Ausstellungsmotto „surface“ aufgesplittert erscheint in weitere, linguistische und semantische Wortfeldbereiche und damit verquickter Assoziationen: das englische Substantiv „face“ schlägt etymologisch den Bogen zur englischen Bezeichnung von Fassade und Facette.Diese Begrifflichkeiten nehmen in vier durchweg experimentell bestimmten Werkgruppen Gestalt an. 

Steigen wir also unmittelbar ein die Bildwelt jener Arbeiten, deren anheimelnd antike, rauchige, dunstige Patina, deren geheimnisumwitterte Aura vielleicht am spontansten unsere Fantasien anturnen.

Wir gewahren eine Serie von altmodisch, vielleicht nostalgisch anmutenden Portraits, die zunächst ein Stück Fotografiegeschichte zitieren: die klassische Atelierstudie von Menschen, die sich eigens für den langfristig anberaumten Fototermin gewissermaßen in Staatsrobe geworfen haben,die nach mutmaßlich etlichen Probeläufen im günstigsten Moment frontal vom Kameramann abgelichtet werden, naturgemäß in Schwarzweiß auf gelblichem Fotopapier.Die hier vertretenen Bildnisse entstammen ursprünglich dem privaten Fotoalbenschatz der Malerin.Die dezidiert getroffene Fotoauswahl bildet so etwas wie:Matrix, Folie oder Resonanzboden für erfinderische Strategien der Fotobearbeitung und der Genese geistreicher Transformationen.Wichtigster Schachzug ist die schichtweise erfolgende Häutung oder Peeling einer Materie, die am Ende des kniffeligen Prozesses zu eine hauchzarten, Hülle oder zu einem Fototorso mutiert.

Was nunmehr greift sind schlußendlich raffinierte, delikate Verfremdungen, malerische Mystifizierungen, gezielte Metamorphosen von Farbenklima, Form und Struktur der Ursprungsaufnahme. Pigmente und Pigmentemulsionen werden behutsam auf die Rückseite fragiler Bildträger eingerieben.

Diesen tiefgreifenden, dynamisch oder bedacht durchgeführten, geradezu bildhauerisch wirkenden Modellierungen von authentischen Zeitzeugnissen liegen zugrunde:Ritzungen, Schürfungen, Tränkungen, Faltungen, Techniken des Schabens und Kratzens, des Ausradierens und der motivischen Ergänzens.

Durch diese Malträtierungsakte entstehen Blessuren, die latent auch Verletzbarkeiten, Verletzungen, Schicksalsschläge von Menschen signalisieren.

Wie eine Archäologin gräbt die Künstlerin aus ihrem Fotoschatz gleichsam unterschwellige Beiklänge aus, schabt an verborgene Seeleninterieurs und kittet diffuse Traumlandschaften, kitzelt Atmosphären, Situationen und Konstellationen heraus;diese erhalten eine zuweilen poetische oder dramatische Steigerung, eine metaphorische Sinnerweiterung durch die bedeutungsträchtige Applikation von weiteren Bildern (Rosen), oder Attributen (Gebetbuch, Brief).

„Die Oberflächen Veränderung alter Fotografien eröffnet einen neuen Zugang zu geschichtlichen Realität eines Momentes in der Zeit. Es geht um das Rätsel und die Interpretation unvollständiger Geschichten“, so Inez Tancre. 

Was uns umgibt, sind, noch mal zur Erinnerung, also angedeutete Schicksalsfährnisse, verblaßte, unscharfe Erfahrungslandschaften.

Darüber hinaus unternimmt die Künstlerin Streifzüge durch kunstgeschichtliche Epochen. Suggeriert werden etwa romantisches Flair, impressionistische Lichtzauberei oder symbolistische Szenerien ebenso wie informelle Malereitrends.

Diese eigensinnige Synthese von Schwarzweißfotografie und experimenteller Malerei richtet einen Appell an Ihre Vorstellungskraft,  an das Facettierungspotential Ihrer Wahrnehmung;

es ist auch scheinbar die erste Aufforderung zum konstruktiven Dialog mit den Kompositionen einer Künstlerin,die sich nicht nur hier auch mit dem Thema:Verstreichen der Zeit, Vanitas, Mortalität auseinandersetzt. Sie werden face to face konfrontiertmit dem Aspekt: „Face – als gesichtete Geschichte“ (Tancre).

Jetzt gehen wir, chronologisch betrachtet, einen Schritt zurück, genauer zu der Serie „Fassade“ (vergleiche englisch: face -  facade), die binnen eines Romaufenthalt entstanden ist. Als Inspirationsquelle von wiederum konzentrierten Bearbeitungsmanövern dienen hier eigene Farbaufnahmen der Fotokünstlerin.

Bereits die Ahnenbildersuite offenbart eine haptische, bisweilen ledern gegerbte Materialität, die an Pergamentpapier, an Papyrus erinnern. Die Häute oder die rudimentären, morbiden Relikte von Ablichtungen, wo sich wohl einst die Pracht römischer Hausfronten manifestierte,verkörpern eine radikale Form von Entfremdung, wo blasse, lyrisch anmutende Farbgebungen und amorphe Strukturen einiges gemein haben mit altmeisterlicher Freskenmalerei.

Angesichts erheblicher Verschleierungen oder Blickbeeinträchtigungen kristallisiert sich um so deutlicher das künstlerische Anliegen heraus:

Es ist der Blick hinter Fenster, Kulissen oder Vorhänge schlechthin, zu dem die Künstlerin anstachelt; evident wird die Absicht, das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren, gewissermaßen den Backstagebereich von Wahrnehmungsinhalten aufflackern zu lassen.

Wesentlich auch in dieser Reihe, und dies ist gleichermaßen eine zentrale Intention einer grundsätzlich für betrachterische Gedankenfreiheit stimmende Künstlerin, sind reichlich zur Verfügung gestellte Freiräume für Deutungsspielarten und Spekulationen.

Ungewöhnliche, die Neugierde beflügelnde Erscheinungsbilder offenbart eine mosaikartig montierte Folge von Arbeiten, die sich nährt aus dem Gedankenzusammenhang von „facets – facetten“.

Die schlichten Entwürfe von „dresses“ wirken wie archaische, sakral angehauchte Gewänder. Ihr collagenes Flickwerk läßt sich lesen wie eine innere Reise zum Kern von partiell elegischen, wehmütigen Lebenslandschaften; deren frappierende Bandbreite fesselt eine Fotokünstlerin, die in diesem Kontext etwa die Diskrepanz zwischen offenkundiger Anmut und untergründigem Horror auslotet.

Auch die Bezeichnung „Kleider“ referiert auf aufschlußreiche Ummantelungen, Kostümierungen, hinter denen sich kontroverse Naturelle, Temperamente, Emotionen und Dispositionen verschanzen. Und wenn man hier von Bilderteppichen sprechen kann, erwacht auch die Erinnerung an die Umgangsvokabel „etwas unter den Teppich kehren“.Eine weitere Gedankenbrücke wird geschlagen zur Wendung „sich in Schale werfen“, zum künstlerischen Äquivalent des Schälens, Entkernens.

Im Komplex „Silicon Valley“ setzt sich die Gründerin der jungen Formation „Germanamericanartists“ kritisch auseinander mit ihrer derzeitigen Umwelt, mit amerikanischen „ways of life“, Lifestyle und Kulturverständnis.

Eingewoben in gesellschaftspolitisch und kritisch grundierte, polare Bildüberkreuzungen ist das veränderliche Lokalkolorit von Landstrichen; gleichermaßen suggeriert werden gelegentlich schleichende Umwälzungen auf dem gesellschaftlichen Sektor. Beispielsweise fokussiert werden Diskrepanz, Dualität, Polarität (ebenfalls ein thematischer Evergreen der Künstlerin) zwischen atemberaubenden Naturen und aggressiven Einzug von schnöder Technik, schaler Industrie und einer von Künstlichkeiten durchdrungenen Zivilisation.Knotenpunkt „Silicon Valley“ steht auch für die „kulturelle Schnellebigkeit der USA“.

Nicht zuletzt spielt diese Sequenz in kritisch skeptischer Manier an auf die kosmetische Allgegenwart eines Kunststoffproduktes, das die (erstarrten und entstellten) Gesichtsfassaden des ortsansässigen, weiblichen Geschlechts nicht nur unterschwellig dominiert.Damit indirekt auf den Plan gerufen ist das Stichwort Maske und kaschierte Wirklichkeit.

Belichtet wird hier der Schwerpunkt „Face – als Oberfläche“. Hier verzichtet die Künstlerin  bezeichnenderweise auf das Medium Fotografie.

Anstatt dessen treffen wir hier auf abstrakte, formalästhetisch versierte Malerei, auf kompakt strapazierte und amputierte (wiederholtes Abwaschen, Abkratzen, Zerreißen) Oberflächen von schließlich hauchdünnem, fast transparente Packpapier;wir begegnen Chiffren, vagen Figurationen, malerischen Schemen und strukturellen Phantomen, Fata Morganas, ephemeren Trugbildern, zerklüfteten Irrwegen und nebulösen Scheinarchitekturen.

Auch in dieser Bildersuite sind wir wiederum Adressaten eines Freibriefes, der unsere Vorstellungskräfte auf freie Bahnen entsendet.

Kommen wir zum Abschlußunserer hoffentlich nicht doch zu langwierigen Betrachtungen:

Es ist das zweite Gesicht und die Uneindeutigkeit der Dinge, biologisch formuliert ist es der hinter dem Phänotyp verborgene Genotyp,und es ist quasi die Janusköpfigkeit von Wirklichkeiten, das schillernde, schimmernde Fluidum,das weitspurige, kontraststarke Spektrum von Zeiten und Räumen,was die subtilen Dramaturgien der Inez Tancre bisweilenevozieren, frei legen und gleich wieder verhüllen.

Es ist auch die Ambivalenz von Seheindrücken, die Fragwürdigkeit einer „imprägnierten“, Wahrnehmung, die hier zur Debatte stehen.

Es ist nicht nur die Oberflächlichkeit, die Flüchtigkeit einer mit Bilderschwemmen bombardierten, passiven Wahrnehmung, die hier ohne erhobenen Zeigefinger an den Pranger gestellt wird.

Vielmehr animiert die dichte, stille und zugleich spannungsgeladene Bildwelt der Inez Tancre in unaufdringlicher Manier zum Kurswechsel, zu Reflektionen, zur Korrektur einer vielfach blockierten Wahrnehmung, die weitgehend automatisch registriert und wenn nicht vorprogrammiert, zumindest nuancenarm deutet.

Das Panoptikum „surface“ ist schlußendlich ein dezentes Plädoyer für eine verfeinerte Kultivierung und Hygiene der Sinne und ein melodisches, virtuoses Credo an freie, elastische, wachsame, souveräne, weitsichtige und facettenreiche und differenzierende und differenzierte Wahrnehmungshorizonte.

Christina zu Mecklenburg